H A I K U U N D T A N K A
WILDBLUMENWIESE
Jeder Schritt zertritt
ein Haiku
FRÜHLINGSNACHT ...SCHLAFLOS
Wird denn die Nachtigall
niemals heiser
MAIREGEN ...
Aus der Erinnerung strömt
plötzlich der gleiche Duft
AUCH IN EUROPA
steigen Rauchsäulen zum Himmel
Frieden -
Tabuwort nach
der "Zeitenwende"
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T A N K A
Tanka – traditionelle, fünfzeilige, japanische Gedichtform.
Im Vergangenen oft mit 31 Silben in der Aufteilung 5/7/5/7/7
Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe November 2024
online-Magazin zur Entwicklung des deutschsprachigen Tanka,
Herausgegeben von Tony Böhle
www.einunddreissig.net
LAUBLICHT, HANGAUF
kollert der Ruf eines Vogels
bis in den Turm
Dann wieder
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„In "Einunddreißig“, Ausgabe Februar 2024
Rüdiger Jung
DIE SPUR DES TANKA SCHREIBT SICH FORT
EIN NEUER GEDICHTBAND VON REINER BONACK
Reiner Bonack: Zu Besuch unterm Mond. Gedichte.
Norderstedt: Books on Demand, 2023.
ISBN 978-3-7528-7860-8. 144 Seiten.
Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe August 2023
KINDHEIT, ZEIT,
als aus der Kuckucksuhr
im Wohnzimmer noch
ein Kuckuck rief,
der nicht aus Holz war
Zeit,
lange bevor ich
mein erstes Gedicht schrieb,
darin den hölzernen Kuckuck
wieder zum Leben erweckte
Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe Mai 2023
GEGENÜBER,
auf dem Nachtschrank,
neben dem leeren Bett:
die Kopfhörer,
der angebissene Apfel
11 JAHRE ALT,
geboren nach dem
zweiten großen Krieg,
spielten wir
Krieg
Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe November 2022
ABENDLCHT
Ein alter Stein erschimmert
am Rand, vor grünem Moos
Warte, das muss ich
gleich teilen
DUFT GEBACKENEN BROTES,
als strömte er her durch die Jahre
Sie wünschen
Ein Stück Kindheit,
hätte ich fast gesagt
Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe Mai 2022
AUS DEN TÜREN SCHWÄRMTEN WIR
Spatzen stoben davon
Ein gelber Ball – unsre Sonne
Verstummt sind die Höfe,
komm, ich friere, ins Haus
NACH DEN NACHRICHTEN
stülpte ich mir
Kopfhörer über
Doch die Musik kam nicht an
gegen die Bilder
WAS IST GLÜCK, VIELLEICHT
im Teeglas etwas Mondlicht,
das ich trinke, auf der Terrasse,
spät, am Abend,
ganz langsam
Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe Februar 2022
SEHE DEINEN VERBLICHENEN BEUTEL,
kaufe noch immer
zu viel Brot, zu viel Wurst,
friere in der Umarmung
des Windes im Sommer
Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe August 2021
TAG OHNE LIED, OHNE WORTE
Sah nur den Wind
im Baum vor dem Fenster
Erst in der Nacht
sang ein Vogel in meinem Kopf
KINDHEIT, DIE MAGIE
der Worte, abends,
neben Hof und Stall,
Und am Rand der Heide sang
der Ziegenmelker laut sein Lied
Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe Februar 2021
FRÜHER,
so heißt es,
gab es Korbflechter im Dorf
Die alte Weide
weiß noch die Zeit
DURCH ALLE MAUERRITZEN
des Klosters zwängt sich
der Frost –
kein Mönch sieht mehr
den Wildgänsen nach
(in memoriam Imma von Bodmershof)
Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe November 2020
Rüdiger Jung
Manchmal höre ich noch etwas von Chopin -
Eine Rezension
Reiner Bonack. Manchmal höre ich noch etwas von Chopin. Gedichte. Norderstedt (Books on Demand), 2020.
ISBN 978-3-7528-9513-1. 108 Seiten.
Reiner Bonack ist zu Recht bekannt als einer, der sich sehr frei und souverän der japanischen Kurzgedichtformen, in den letzten Jahren vor allem des Tanka, bedient. Postuliert das Haiku seinem Herkommen nach die absolute Gegenwart, steht das Tanka in ganz anderer Weise der Erinnerung offen – etwa jener der frühen Kindheitstage:
SCHEIBEN, WRASENBESCHLAGEN,
im Kessel brodelte Lauge
Wunde Hände
strichen am Abend
des Waschtags sanft durch mein Haar.
AUF DER SCHWÄRZE NEBEN DER HAND
schimmerten erste Worte,
knirschte, so schien es,
die Schiefertafel wie ich
mit den Zähnen
GEZÜGELT, ARTIG
noch immer, als ginge ich
an Großmutters Hand
Ein kleiner Zirkus rollt an,
winken will ich - winke nicht (S. 18)
Erinnerungen, die beim Lesen unmittelbar berühren – sinnlich, konkret, poetisch frisch und unverbraucht. Liebe und Abschied – das waren die bestimmenden Themen in dem Gedichtband “Dein Schweigen – meine Stimme“ von Marie Luise Kaschnitz. Für Reiner Bonacks neuen Band "Manchmal höre ich noch etwas von Chopin"– mit der Widmung "FÜR ANGELIKA" (S. 5) gilt dasselbe. Gedichte wie "Wünsche" (S. 67), wohl auch "Kreislauf" (S. 70), vor allem aber das ganze Kapitel “SCHAU / DIE MILCHSTERNE BLÜHEN" (S. 75 bis S. 100) sind besonders dicht bei dieser Widmung beheimatet. Der Autor begegnet dem Thema in großer stilistischer und formaler Vielfalt. Aber gerade wo das Empfinden so tief geht, so weit reicht, scheint das sparsame Wort angezeigt. Reiner Bonack ist sich dessen bewusst, dass gerade in der ältesten Tradition japanischer Lyrik, dem Tanka, Liebe und Abschied zu den klassischen Themen gehören. Gerade hier trägt er seine persönlichen, allerpersönlichsten Erfahrungen ein – in einer nicht selten geradezu beschwörenden Sprache.
Es mag vom Thema geboten sein, dass hier eine besondere Achtsamkeit waltet, die – man mag auch Franziskus von Assisi oder Kobayashi Issa als Vorbilder benennen – an Albert Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben" anknüpft:
VOR DEINEN SCHUHEN
kleine Igel
Behutsam weichst du
aus, als lebten
die Kastanien darin (S. 90)
DEZEMBERMORGEN
Vergiss die Krümel nicht
für unsere Fliege (S. 91)
Die persönlichsten Texte sind so berührend, dass ich sie in Auswahl zitieren, aber nicht kommentieren möchte – jedes deutende Wort gleitet an ihnen ab.
AUF DEN HELLEN FÄDEN
deines Haars glitzert Regen
Komm schnell ins Haus
Es wird wieder wachsen, Liebste
Es wird wieder wachsen (S. 84)
DER KUCKUCK RUFT
Zwei Jahre, sagst du,
wären schon viel (S. 86)
NACHTS, IM TREPPENFLUR
die schnellen Schritte
Wer sollte kommen
außer dir,
die niemals mehr kommt (S. 93)
KALT IST ES
Komm doch
Dein Mantel wartet
Wie wirst du frieren, jetzt,
unter der Erde (S. 94)
UNSICHTBAR MACHTE
Regen den Schnee, löschte
den Winter und deine Spur
Doch sehe ich dich
gehen und gehen und – friere (S. 98)
Wie eindringlich allein diese Perpetuierung des Gehens von der Trauerarbeit spricht, einem Abschied, der Aufgabe ist und bleibt.
(Anmerkung des Rezensenten: Tanka, Haiku, Verwandtes finden sich in dem Buch auf den Seiten 5, 18, 81 und 84 bis 100).
Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe August 2020
KEIN SCHNEE FIEL, WÄRMTE
deinen Schlaf, nachdem
die Erde dich aufnahm
Nun streut der Wind
Robinienblüten auf das Gras
Weitere Tanka des Autors in zurückliegenden Ausgaben finden Sie im Archiv der Online-Zeitschrift unter: www.einunddreissig.net