H A I K U   U N D  T A N K A

 

 

WILDBLUMENWIESE

Jeder Schritt zertritt

ein Haiku

 

 

FRÜHLINGSNACHT ...SCHLAFLOS
Wird denn die Nachtigall
niemals heiser

 

 

MAIREGEN ...

Aus der Erinnerung strömt
plötzlich der gleiche Duft

 

 

 AUCH IN EUROPA

steigen Rauchsäulen zum Himmel

Frieden -

Tabuwort nach

der "Zeitenwende"

 

 

   *****************************************************

  

T A N K A

 Tanka – traditionelle, fünfzeilige, japanische Gedichtform.

Im Vergangenen oft mit 31 Silben in der Aufteilung 5/7/5/7/7

 

 „In "Einunddreißig“, Ausgabe Februar 2024

   online-Magazin zur Entwicklung des deutschsprachigen Tanka,

Herausgegeben von Tony Böhle

www.einunddreissig.net

 

Rüdiger Jung

DIE SPUR DES TANKA SCHREIBT SICH FORT

EIN NEUER GEDICHTBAND VON REINER BONACK

 

 Reiner Bonack: Zu Besuch unterm Mond. Gedichte.

Norderstedt: Books on Demand, 2023.

ISBN 978-3-7528-7860-8. 144 Seiten.

 

 

Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe August 2023

 

KINDHEIT, ZEIT,

als aus der Kuckucksuhr

im Wohnzimmer noch

ein Kuckuck rief,

der nicht aus Holz war

 

Zeit,

lange bevor ich

mein erstes Gedicht schrieb,

darin den hölzernen Kuckuck

 wieder zum Leben erweckte

 

 

   Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe Mai 2022

 

GEGENÜBER,

auf dem Nachtschrank,

neben dem leeren Bett:

die Kopfhörer,

der angebissene Apfel

 

 

11 JAHRE ALT,

geboren nach dem

zweiten großen Krieg,

spielten wir

 Krieg

 

 

  Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe November 2022

 

ABENDLCHT

Ein alter Stein erschimmert

am Rand, vor grünem Moos

Warte, das muss ich

gleich teilen

 

 

DUFT GEBACKENEN BROTES,

als strömte er her durch die Jahre

Sie wünschen

Ein Stück Kindheit,

 hätte ich fast gesagt

 

 

   Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe Mai 2022

 

AUS DEN TÜREN SCHWÄRMTEN WIR

Spatzen stoben davon

Ein gelber Ball – unsre Sonne

Verstummt sind die Höfe,

komm, ich friere, ins Haus

 

 

NACH DEN NACHRICHTEN

stülpte ich mir

Kopfhörer über

 Doch die Musik kam nicht an

gegen die Bilder

 

 

WAS IST GLÜCK, VIELLEICHT

im Teeglas etwas Mondlicht,

das ich trinke, auf der Terrasse,

spät, am Abend,

ganz langsam

 

 

  Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe Februar 2022

 

 SEHE DEINEN VERBLICHENEN BEUTEL,

kaufe noch immer

zu viel Brot, zu viel Wurst,

friere in der Umarmung

des Windes im Sommer

 

 

 Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe August 2021

 

TAG OHNE LIED, OHNE WORTE

Sah nur den Wind

im Baum vor dem Fenster

 

Erst in der Nacht

sang ein Vogel in meinem Kopf

 

 

KINDHEIT, DIE MAGIE

der Worte, abends,

neben Hof und Stall,

Und am Rand der Heide sang

der Ziegenmelker laut sein Lied

 

 

 Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe Februar 2021

 

 FRÜHER,

 so heißt es,

 gab es Korbflechter im Dorf

 

 Die alte Weide

 weiß noch die Zeit

 

 

DURCH ALLE MAUERRITZEN

des Klosters zwängt sich

der Frost –

kein Mönch sieht mehr

den Wildgänsen nach 

 

(in memoriam Imma von Bodmershof)

 

 

Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe November 2020

 

Rüdiger Jung

Manchmal höre ich noch etwas von Chopin -

Eine Rezension

Reiner Bonack. Manchmal höre ich noch etwas von Chopin. Gedichte. Norderstedt (Books on Demand), 2020.

ISBN 978-3-7528-9513-1. 108 Seiten.

 

Reiner Bonack ist zu Recht bekannt als einer, der sich sehr frei und souverän der japanischen Kurzgedichtformen, in den letzten Jahren vor allem des Tanka, bedient. Postuliert das Haiku seinem Herkommen nach die absolute Gegenwart, steht das Tanka in ganz anderer Weise der Erinnerung offen – etwa jener der frühen Kindheitstage:

 

SCHEIBEN, WRASENBESCHLAGEN,

im Kessel brodelte Lauge

Wunde Hände

strichen am Abend

des Waschtags sanft durch mein Haar.

 

     AUF DER SCHWÄRZE NEBEN DER HAND

     schimmerten erste Worte,

     knirschte, so schien es,

     die Schiefertafel wie ich

     mit den Zähnen

 

GEZÜGELT, ARTIG

noch immer, als ginge ich

an Großmutters Hand

Ein kleiner Zirkus rollt an,

winken will ich - winke nicht  (S. 18)

 

Erinnerungen, die beim Lesen unmittelbar berühren – sinnlich, konkret, poetisch frisch und unverbraucht. Liebe und Abschied – das waren die bestimmenden Themen in dem Gedichtband “Dein Schweigen – meine Stimme“ von Marie Luise Kaschnitz. Für Reiner Bonacks neuen Band "Manchmal höre ich noch etwas von Chopin"– mit der Widmung "FÜR ANGELIKA" (S. 5) gilt dasselbe. Gedichte wie "Wünsche" (S. 67), wohl auch "Kreislauf" (S. 70), vor allem aber das ganze Kapitel “SCHAU / DIE MILCHSTERNE BLÜHEN" (S. 75 bis S. 100) sind besonders dicht bei dieser Widmung beheimatet. Der Autor begegnet dem Thema in großer stilistischer und formaler Vielfalt. Aber gerade wo das Empfinden so tief geht, so weit reicht, scheint das sparsame Wort angezeigt. Reiner Bonack ist sich dessen bewusst, dass gerade in der ältesten Tradition japanischer Lyrik, dem Tanka, Liebe und Abschied zu den klassischen Themen gehören. Gerade hier trägt er seine persönlichen, allerpersönlichsten Erfahrungen ein – in einer nicht selten geradezu beschwörenden Sprache.

Es mag vom Thema geboten sein, dass hier eine besondere Achtsamkeit waltet, die – man mag auch Franziskus von Assisi oder Kobayashi Issa als Vorbilder benennen – an Albert Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben" anknüpft:

 

VOR DEINEN SCHUHEN

kleine Igel

Behutsam weichst du

aus, als lebten

die Kastanien darin  (S. 90)

 

DEZEMBERMORGEN

Vergiss die Krümel nicht

für unsere Fliege (S. 91)

 

Die persönlichsten Texte sind so berührend, dass ich sie in Auswahl zitieren, aber nicht kommentieren möchte – jedes deutende Wort gleitet an ihnen ab.

 

AUF DEN HELLEN FÄDEN

deines Haars glitzert Regen

Komm schnell ins Haus

Es wird wieder wachsen, Liebste

Es wird wieder wachsen  (S. 84)

 

DER KUCKUCK RUFT

Zwei Jahre, sagst du,

wären schon viel  (S. 86)

 

NACHTS, IM TREPPENFLUR

die schnellen Schritte

Wer sollte kommen

außer dir,

die niemals mehr kommt  (S. 93)

 

KALT IST ES

Komm doch

Dein Mantel wartet

Wie wirst du frieren, jetzt,

unter der Erde  (S. 94)

 

UNSICHTBAR MACHTE

Regen den Schnee, löschte

den Winter und deine Spur

Doch sehe ich dich

gehen und gehen und – friere  (S. 98)

 

Wie eindringlich allein diese Perpetuierung des Gehens von der Trauerarbeit spricht, einem Abschied, der Aufgabe ist und bleibt.

 

(Anmerkung des Rezensenten: Tanka, Haiku, Verwandtes finden sich in dem Buch auf den Seiten 5, 18, 81 und 84 bis 100).

 

   Aus: „Einunddreißig“, Ausgabe August 2020

 

KEIN SCHNEE FIEL, WÄRMTE

deinen Schlaf, nachdem

die Erde dich aufnahm

 

Nun streut der Wind

Robinienblüten auf das Gras

 

 

Weitere Tanka des Autors in zurückliegenden Ausgaben finden Sie im Archiv der Online-Zeitschrift unter: www.einunddreissig.net